"Ach Herr, ..." 

Psalm zur Lage der Kirche in Deutschland anlässlich des Pfingstfests
erarbeitet von Johannes Broxtermann 

***
 

Ach, Herr … 

Das Loblied am Morgen 

hängt zwischen den Zähnen fest, 

kann nicht heraus, 

denn das Herz klagt 

 

Ach, Herr … 

Man sagt: 

Unter jedem Dach ein Ach 

Unter dem großen Dach 

der Kirche ein großes Ach – 

Klage und Anklage 

 

Einst sangen wir Loblieder 

Ein Haus voll Glorie schauet 

weit über alle Land 

und nun bleibt uns nur 

Herr, erbarme dich 

 

Vielleicht waren 

die Loblieder von einst 

zu vollmundig 

 

Vielleicht haben wir 

die Kirche zu sehr 

auf den Sockel gestellt, 

den Heiligen Vater in Rom 

fast mit dir verwechselt – 

Zu viel Oberhirten 

und Exzellenzen, 

zu wenig Hirtendienst 

 

zu viel Glanz und Gloria, 

zu viel Macht und Geld, 

zu viel Behörde – 

ein geschlossenes System 

mit eigener Logik, 

weltfremd und 

immer im Recht 

 

Eine Kirche, 

die um sich selber kreist, 

der es um das 

eigene Ansehen ging, 

die so 

eine Fassade aufbaute 

und die die Risse 

in der Fassade 

überpinselte 

 







Ach, Herr …

Wir klagen,

sind erschüttert

über den Missbrauch

der Macht

und der Menschen,

über die kindlichen Opfer

und ihre

oft gebrochenen Seelen

Kaltherzig

wurden sie behandelt

wie Zahlen einer Statistik,

man glaubte ihnen nicht,

sie bekamen kein Gesicht.

 

Wir sind erschüttert

über das Verschweigen

und Vertuschen

und Hinwegsehen

und die

nicht wahrgenommene

Verantwortung – und über die

noch nicht mal halbe Wahrheit

selbst aus päpstlichem Munde

 

Das alles in der Kirche,

dem Hort der Wahrheit,

dem Ort deiner Liebe

mitten in der Welt - - -

 

Wir hören

die Frage Jesu an seine Jünger:

Wollt nicht auch ihr gehen?

Und wir hören die Frage an uns:

Was hält euch eigentlich noch?

 

Ach, Herr,

die Kirche liegt am Boden,

wird ausgezählt

wie im Boxring

Knock-out total

Im Ranking des Vertrauens

steht sie ganz unten.

 

Aber jetzt – ganz unten,

fast am Nullpunkt –

könnte

das Entscheidende kommen

Wie der Suchtkranke,

der herauswill aus der Sucht,

an den Nullpunkt muss …

Der Umschwung …


Die Wege zurück ins Alte

sind versperrt

Jetzt ist die Stunde der Wahrheit

und der Einsicht

 

Jetzt: die Bescheidenheit

und die Demut

Eine gründliche Reinigung

Mehr als üblicher Hausputz

Der Verzicht auf den Glanz

und die bröckelnde Macht und

die Selbstbeweihräucherung
 

Radikale Ehrlichkeit 

Akzeptanz und Liebe 

auch zu denen, die Du, Gott, 

anders geschaffen hast 

und die sich jetzt 

aus den Verstecken wagen 

 

In einem Wort gesagt: Es steht an 

– Umkehr 

Zu Jesus 

Zu einer Re-Form der Gemeinde, 

wie er, Jesus, sie gedacht hat. 

Offen für alle 

Männer und Frauen gleich 

Alle, wirklich alle: willkommen 

 

Ach, Herr – 

lieber Vater: 

Schenke uns 

und der ganzen Kirche, 

dass wir diese Stunde 2022 

nicht verjammern, 

auch nicht verharmlosen, 

nicht vertrödeln, nicht 

business as usual machen 

Schenke uns und der ganzen Kirche, 

dass wir das Gute bedenken, 

das der Glaube 

uns gegeben hat und gibt 

Dass wir in uns 

das Bild Jesu Christi 

leuchten lassen, 

des Mitgehers 

Dass wir Skandale 

als Alarmzeichen ernst nehmen, 

aber nicht für das Ganze halten 

 

Herr, 

die Kirche ist vorläufig – und sündig 

Du bist ewig – und heilig 

Lass uns besonnen sein 

und wieder glaubwürdig werden 

Denn alles, was der Heilung dient, 

ist da – muss nur genutzt 

und gelebt werden

(veröffentlicht am 13.4.2022)

Aus der Kirche austreten! Oder doch nicht?

Für engagierte Christen ist es schwierig aus der Kirche auszutreten. Ebenso schwierig ist es aber auch in der Kirche zu bleiben.

Lesen Sie hierzu die Kolumne von Laura De Weck, veröffentlicht im Tagesanzeiger vom 1. Februar 2022.

(veröffentlicht am 6.3.2022)